Judith Siegmund :: Visual Art, Conceptual Art, Philosophy

Fremde Freier


(DVD, VHS), 2004

 

Siegmund billigt der Position vor der Kamera die gleiche Zuständigkeit zu wie der hinter der Kamera. Daher befragte sie auch die Prostituierten, die sie ... interviewte, nicht nach ihrem Leben, sondern nach ihren Freiern. Sie sieht die Frauen nicht primär als Opfer widriger Umstände, was die biogra-fische Erzählung bestätigen soll, sondern als Frauen, die über ein spezifisches Wissen verfügen - über den deutschen Mann und seinen Sex. Denn 90 Prozent der Männer, die die Dienste der Sexarbeiterinnen aus Weißrussland und anderen östlichen Ländern in Anspruch nehmen, sind deutsch.

Brigitte Werneburg (taz)


Michael Nungesser: Judith Siegmund. Fremde Freier




Eine große Rolle spielt auch das Wort bei der Videoinstallation von Judith Siegmund. Die 1965 geborene Künstlerin, die in Dresden unter anderem bei Gerhard Kettner studiert und später ein Aufbaustudium an der Stuttgarter Kunsthochschule absolviert hat, war anfangs Malerin. Die Konfrontation mit der neuen künstlerischen Situation und den damit verbundenen Marktstrukturen im wiedervereinigten Deutschland führte sie zu konzeptuellen Positionen mit verändertem Rollenverständnis. Sie schließt ein Studium der Philosophie an, übernimmt Lehraufträge, hält Vorträge. Ähnlich wie bei anderen Projektteilnehmern – Cordes, Jaeggi, Prigov und Wesoowski – ist Siegmunds künstlerische Arbeit eng mit philosophisch-gesellschaftlichen Fragestellungen verbunden. Ästhetische Form (Fotografie, Film, Installation, Publikation und andere) und Ort (Galerie, Museum oder andere öffentliche Institutionen, Straßenraum) ergeben sich in einer integrativen Strategie aus den vorbereitenden kommunikativen Dienstleistungen der Künstlerin, in die immer schon Organisationen und Menschen einbezogen sind, die auch als mögliche Rezipienten in Frage kommen.

Der Schauplatz des Kunstprojektes »Goetzen – Ich und die Anderen« steht im Zeichen der Grenzsituation. Die beiderseitigen Bilder vom Anderen werden durch Vorurteile, Überlieferungen, Gewohnheiten, Moden und Skandalgeschichten bestimmt, selten durch Tatsachen und eigene Erfahrung. Die Öffnung der Grenze nach dem Ende des Ost-West-Konflikts führte aufgrund des wirtschaftlichen Gefälles zwischen Deutschland und Polen in Subice zu einem Anstieg der Prostitution: die Freier sind zum größten Teil Deutsche aus vielen Regionen, die Sex-Arbeiterinnen kommen vor allem aus Weißrussland, Lettland und Litauen. Prostitution ist das Thema des Videos »Fremde Freier«, nachdem Siegmund in den Jahren zuvor im Projekt »Soziale Geräusche« das Problem der Fremdenfeindlichkeit und des Alltagsrassismus in der Region Frankfurt (Oder) und Subice sowie im österreichischen Graz und in der slowenischen Steiermark untersucht hatte. Die Arbeit mit Fragebögen und (aufgeschriebenen) Gesprächen stand damals im Zentrum, ein Buch fasste das Projekt dauerhaft zusammen: »Ich möchte es als ein Kunstwerk (im Gegensatz zu einem Kunstkatalog) beschreiben, nämlich eins, das die Prozesshaftigkeit der Projekte an den Grenzen nicht nur dokumentiert, sondern wieder aufnimmt und weiterspinnt.«1

Der mit einem DVD-Abspielgerät auf Monitor gezeigte fast halbstündige Videofilm »Fremde Freier« dokumentiert die russisch geführten Einzelgespräche (deutsche Untertitel) mit drei Prostituierten, die in einem der vielen Clubs von Subice arbeiten; sie fanden im Hotel oder in den Räumen des Vereins für soziale Beratung und Betreuung »Bella Donna« in Frankfurt (Oder) statt. Zwei der Frauen ließen sich nur mit dem Rücken zur Kamera filmen. Ihre Erfahrungen sind je nach Temperament unterschiedlich, die Zwangs-lage, die sie zu dieser Arbeit veranlasste, ist es nicht. »Money, money machen! Das war das erste Wort auf Deutsch, was ich lernte.« – »Im Großen und Ganzen sind Männer Diktatoren.« – »Sie sagen, solche Frauen findest du in ganz Deutschland nicht.« Die Frauen verbinden Deutschland mit gesteigertem Ordnungssinn, mit Sparsamkeit – selbst bei der käuflichen Liebe.

Zu Wort kommen die Frauen, die Freier bleiben anonym. Schreitende Männerbeine sind den Gesprächsteilen dazwischen geschaltet. Beide Elemente des Films füllen nicht die ganze Bildfläche aus, sondern erscheinen aus einer schwarzen Maske ausgeschnitten – das schafft Abstand und Raum für Reflexion. Schon zu Beginn wusste die Künstlerin, dass sie »die Beschreibung von Prostituierten als Opfer vermeiden will und sie selbst entscheiden lassen möchte, wie sie ihre Arbeit darstellen«. Damit eng verbunden ist die Absicht, dass sie »nicht die Frauen über ihr Leben befragte, sondern mit Hilfe der Frauen die deutschen Freier zum Thema machte«2. Der Film ist eine nüchterne Dokumentation: Die Frauen reden in ihrer Sprache, vermitteln ihre persönlichen Eindrücke, »keine Sensation, keine Provokation, keine gefilmte Polizeirazzia mit Handschellen...« – es geht der Autorin »nicht um die Verwertbarkeit des Themas im Sinne gut gemachter Kunst«3. Bei der letzten Frage nach der Zukunft weitet sich der Blick, auch filmästhetisch gesehen, denn jede der drei Frauen sieht sie anders – skeptisch, resigniert oder mit Hoffnung, eher passiv beobachtend oder vom eigenen Handeln bestimmt, mit Blick auf die Anderen oder auf sich selbst.

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1 Judith Siegmund: Vorwort, in: diess.: Soziale Geräusche. Słubice, Frankfurt (Oder), Übermurgebiet / Slowenische Steiermark, Graz. Hrsg. vom Forum Stadtpark, Graz 2003 (Deutsch/Polnisch/Slowenisch), S. 9-11, hier 11.

2 Judith Siegmund: Fremde Freier, in: Ausst.-Kat. Künstlerinnenprojekt Goldrausch 2004, Kunstraum Kreuzberg, Berlin 2004.

3 Ebd.


Judith Siegmund: Fremde Freier (28 min)




Die Arbeit an der DVD Fremde Freier brachte mich dazu, generelle Fragen über partizipatorische künstlerische Arbeitsweisen erneut zu stellen. Benutze ich Menschen als Materialien, wenn ich sie filme? Kann ich jemandem eine Stimme geben? Wie verhält es sich damit, dass ich in einen mir fremden Lebensraum als Künstlerin eindringe und dort mit Lebensläufen konfrontiert bin, die ich nicht teilen kann? Wie kann ich Bevormundung vermeiden? Ich vermute, dass ich als Künstlerin weder einer Person die Stimme geben kann, die ihr fehlt, noch dass ich eine Sache in einem Video so fassen kann, wie sie wirklich ist. Schon zu Beginn der Arbeit wusste ich aber, dass ich die Beschreibung von Prostituierten als Opfer vermeiden will und sie selbst entscheiden lassen möchte, wie sie ihre Arbeit darstellen. Auch ihre Schilderung als Femmes fatales, als Frauen, die das Abenteuer suchen, ist meiner Meinung nach falsch; arbeiten die von mir interviewten Frauen doch, um Geld zu verdienen und weil ihnen kein anderer Ausweg bleibt.

Aus dem Nachdenken während der Vorbereitung und aus der aktuellen Situation an der deutsch-polnischen Grenze ergab sich, dass ich nicht die Frauen über ihr Leben befragte, sondern mit Hilfe der Frauen die deutschen Freier zum Thema machte. Denn 90 Prozent der Männer, die die Dienste der Sex-Arbeiterinnen aus Weißrussland, Litauen, Lettland und anderen östlichen Ländern auf der polnischen Seite der Grenze in Anspruch nehmen, sind deutsch. Für sie existiert das große Netzwerk von Zuhältern und Clubbesitzern entlang der Grenze und innerhalb Deutschlands. Sie kommen in die Bordelle oder auf den Straßenstrich, um Niederlagen aus ihrem Alltag zu kompensieren, oder zur Befriedigung ihrer körperlichen Bedürfnisse. Über ihr Verhalten und über ihr Verhältnis zu den Prostituierten wissen wir wenig. Wie kann es sein, dass sie als Kunden die Lebenssituation derer, von denen sie sich bedienen lassen, so gut ausblenden, dass bezahlter Sex ihnen wahrscheinlich wie ein faires Tauschgeschäft erscheint?

Es gibt nur eine Möglichkeit, den deutschen Freier zu zeigen, nämlich anonymisiert. Denn deutsche Freier schützt das Gesetz - es verbietet die Darstellung von Personen außerhalb der Menschenmasse ohne ihre Zustimmung. Und auf die Zustimmung eines Freiers, ihn filmen zu dürfen, kann man nicht hoffen. Denn es sind die Freier, die sich z.B. über Journalismus zum Thema Grenzprostitution bei Zuhältern beschweren, weil journalistische Berichte für sie das Risiko darstellen, erkannt zu werden. Im Video werden die thematisch gegliederten Erzähleinheiten immer wieder unterbrochen durch die stilisierten Schritte des Freiers. Der Rhythmus und das Geräusch der Schritte bilden so den Hintergrund für die Berichte der Frauen.

Im Gegensatz zu den Frauen, die keinen deutschen Pass besitzen, müssen die Freier sich nicht vor polizeilichen Übergriffen fürchten. So bequem es den Freiern in unserer Gesellschaft gemacht wird - sie haben den Frauen einen deutschen Pass und das Leben in einer reicheren Nation voraus - so unbequem, ja gefährlich ist es für die Frauen, ein Interview zu geben. Auch aus diesem Grund sollten die Frauen die Umstände und den Ablauf unserer Treffen selbst bestimmen. Zwei von ihnen entschieden sich, mit dem Rücken zur Kamera zu sprechen, eine dritte wollte beim Erzählen in die Kamera sehen. Ein Treffen fand in einem Hotel statt, zwei in den Räumen des Vereins Bella Donna e.V. Frankfurt (Oder). Die Erfahrungen der Streetworkerinnen des Vereins halfen zu vermeiden, dass den Frauen Nachteile aus meiner Arbeit entstehen. Die Gespräche habe ich (mit Hilfe einer Dolmetscherin) auf russisch geführt. Es ist mir wichtig, dass nicht die Frauen in einer Fremdsprache reden, sondern dass deutsche Zuschauer russisch hören und deutsch lesen müssen. (Die vorliegende Dokumentation der Arbeit stellt hingegen einen Kompromiss dar, denn ich hätte sie mir komplett zweisprachig gewünscht.)

Da die Arbeit Fremde Freier eine künstlerische Arbeit ist und im Kunst-Kontext präsentiert wird, muss ich mir als Autorin Fragen über die stilistische Machart des Videos gefallen lassen. Und zwar solche, die sich darauf beziehen, wie die Oberfläche des Videos gestaltet ist, so dass es einem kritischen bzw. verwöhnten Publikum, welches darüber hinaus bestimmte Sehgewohnheiten hat, serviert werden kann. Wie kann das zusammengehen mit Erzählungen von Frauen, die über solch eine Arbeit berichten? Was habe ich mit der Gestaltung in der Hand, wie möchte ich das Erzählte interpretieren und inwieweit darf ich das Gesagte modifizieren? Meine Antwort ist: so wenig wie möglich - und auch dafür müssen stilistische Lösungen gesucht und gefunden werden. Auf die Verwendung von schwarzen Masken, die den Effekt erzielen, dass nicht der ganze Bildschirm für die Videobilder ausgenutzt wird, kamen wir während der Schneide-Arbeit, als wir das Verhältnis zwischen Text und Bild diskutierten und probierten. Ohne Zweifel stehen hier die (russische) gesprochene Sprache der Frauen und dadurch auch die geschriebenen Untertitel im Mittelpunkt. Bildinformation ist genügend auch in den kleinen Fenstern gegeben. Die Begrenzung der Bilder durch den schwarzen Bildschirmhintergrund scheint ein Gefühl des Voyeurismus bei den Zuschauern zu erzeugen.

Wenn es aber Authentizität einer Erzählung streng genommen nicht geben kann in dem Sinne, dass uns jemand erzählt, wie es wirklich ist, warum soll es trotzdem möglich und sogar wichtig sein, verantwortlich mit dem gefilmten Material umzugehen? Eine erste Antwort ist: weil ich den Frauen, die ich traf, nicht schaden möchte. Die zweite Antwort lautet: Ich bin davon überzeugt, dass es richtige und falsche Präsentationsarten des aufgenommenen Materials gibt, und richtig finde ich es, wenn ich versuche, die Erzählung der Frauen in den Vordergrund zu rücken. Für mich heißt das: keine Sensation, keine Provokation, keine gefilmte Polizeirazzia mit Handschellen, keine Abendkleider und Champagnergläser usw., für mich heißt das, den Schilderungen der Frauen zuzuhören, sie als kompetente Gesprächspartnerinnen wahrzunehmen. Es heißt auch, kein Filmteam mitzubringen, sondern mit meiner kleinen Kamera zu filmen, es heißt, die Frauen nicht wie Schauspieler hin und her zu platzieren, um den besten Bildausschnitt zu bekommen, sondern mit dem niedrigen technischen Niveau und der improvisierten Situation zurechtzukommen (ein ganz anderes Vorgehen als bei einer Filmproduktion). Das bedeutet auch, nicht in erster Linie an meine Karriere als Künstlerin zu denken, wenn ich über die Präsentation entscheide, und so dem (Fach-)Publikum nicht besonders in seinen Gewohnheiten entgegenzukommen. (Unter solche Gewohnheiten fallen wohlgemerkt auch spezielle Arten, Betroffenheit herzustellen, moralisch richtige Darstellungen, oder die Vorgabe, es müsse etwas Neues dargestellt werden.) Es bedeutet aber auch, die Aufnahmen untereinander nicht anzugleichen, im Sinne einer schlüssigen Message, einer korrekten inhaltlichen Haltung oder einer effektiven Oberflächengestaltung des Videos; nichts zu zensieren und auch dem Erzählten nicht seine Widersprüche zu nehmen. Viele Ansprüche, die auf Kunst Spezialisierte im Sinne der Perfektion stellen (und die einem als Produzentin manchmal im Nacken sitzen), prüfe ich auf ihre Angemessenheit gegenüber dem Dargestellten. Vieles scheint mir hier z.B. unangemessen. Es kann eben nicht um die Verwertbarkeit des Themas im Sinne gut gemachter Kunst gehen. Das nicht, - auch wenn es Authentizität gegenüber einem Betrieb, der alles verwertet, nicht gibt; so erklärt es der kunstwissenschaftliche Konsens. Es ist oft gesagt worden, dass Kunst nicht eingreift ins soziale Leben, dass sie lediglich ein eigenes Feld eröffnet und modifiziert. Diese Auffassung gerät hier an ihre Grenzen. Es geht eben doch um die Arbeit der Frauen, um ihren Blick auf die Kunden, für die alles eingerichtet ist. Es geht darum, etwas zu zeigen, das ich von den interviewten Frauen gelernt habe, indem ich ihnen zuhörte. Es geht um ihren und meinen Anteil am Video.