Judith Siegmund :: Visual Art, Conceptual Art, Philosophy

Soziale Geräusche III


(Interviews, Videos, Fragebögen, Kästen und Transparente im Stadtraum, Schülerarbeit, Ausstellung) 2000



Judith Siegmund, Brigitte Franzen, Armin Hauer: SOZIALE GERÄUSCHE – SZUMY SPOŁECZNOŚCI – SOCIALNA ŠUMENJA

Herausgegeben vom Forum Stadtpark Graz, Graz 2003, Stipendienprogramm Airport in Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern Museum Junge Kunst Frankfurt (Oder) Kulturhaus SMOK Słubice (Słubicki Miejski Ośrodek Kultury), Gefördert durch die Europäische Komission, Politikentwicklungim kulturellen Bereich, im Rahmenprogramm "Kultur 2000"

www.amazon.de/Soziale-Geräusche



Das dreisprachig – auf Deutsch, Polnisch und Slowenisch – veröffentlichte Buch von Judith Siegmund SOZIALE GERÄUSCHE zeigt Material, angesammelt im Laufe ihrer zwei Kunstprojekte in zwei verschiedenen Grenzregionen: 1999-2000 auf Einladung des Museums Junge Kunst Frankfurt (Oder) weilte Judith Siegmund im deutsch-polnischen Grenzraum Frankfurt (Oder) / Słubice. 2001 wiederholte sie ihre Erfahrungen im österreichischen Graz und in der slowenischen Steiermark, iesmal mit der Unterstützung vom Forum Stadtpark, das auch der Herausgeber des Buches ist.
Die Quelle beider Kunstprojekte bildeten Aussagen der Anwohner beider Regionen. Zum Teil waren es handschriftlich geschriebene, anonym ausgefüllte Fragebögen und zum Teil gesprochene und dann aufgeschriebene Interviews. Im künstlerischen Prozess wurden sie (in Frankfurt / Oder auch als ein Ausstellungskonzept – eine Vernetzung des Kunstraums mit dem Stadtraum) ergänzt, erweitert und verarbeitet durch andere Medien: Videos, Textcollagen, Schriftinstallationen, Transparente, Fotos.

Mit der Publikation geht zwar etwas von der Vieldimensionalität des Projekts verloren, das künstlerische Spektrum des Projekts erweitert sich aber zugleich um ein weiteres Ausdrucksmittel – das in den drei Sprachen gedruckte Wort. In der Dreisprachigkeit steckt die Idee der Vergleichbarkeit und erst damit ist das holistisches Konzept der von Siegmund durchgeführten künstlerischen Aktion lesbar: die Menschen aus den zwei sehr weit voneinander gelegenen Regionen in ihrer eigenen Sprache und ihrer eigenen Mundsprache (oral history) sprechen zu lassen. Das Buch ist also viel mehr als die bloße Dokumentation des Projekts. Es ist aber auch weder eine wissenschaftliche noch eine politische Publikation, weder ein reiner Kunstkatalog noch eine unkommentierte Materialsammlung. Aber was ist es dannł Ich möchte es als ein Kunstwerk (im Gegensatz zu einem Kunstkatalog) beschreiben, nämlich eins, das die Prozesshaftigkeit der Projekte an den Grenzen nicht nur dokumentiert, sondern wieder aufnimmt und weiterspinnt – schreibt Autorin in ihrem Vorwort.

Auf den ersten Blick kann die Auswahl der beiden Grenzräume als Vergleichsgebiete zweier Kunstexperimente ziemlich willkürlich erscheinen. Es ist aber nicht so. Die Regionen an der Mur und an der Oder haben, trotz ihrer erheblichen geografischen Entfernung, viel gemeinsam. Sie sind Teile der wichtigsten europäischen Sprachgrenze, i.e. germanisch-slawischen und in diesem Sinne auch Teile der historischen politischen Grenze zwischen dem Westen und dem Osten. Zehn Jahre nach der Wende – und das war gerade der Zeitpunkt in dem Siegmund ihre Kunstprojekte ausführte, lagen die Unterschiede zwischen dem Westen und dem Osten weniger in der Politik als vielmehr in der Wirtschaft. Der Osten ist ärmer, der Westen reicher. Darüber hinaus sind sowohl Polen als auch Slowenien die EU-Beitrittskandidaten und – mit großer Wahrscheinlichkeit – ab 2004 Mitglieder des vereinten Europa.

Die Arbeitsweise der Künstlerin – schreibt in ihrem Vorwort Dr. Brigitte Franzen von der Grazer Universität – ist inspiriert von dokumentarisch-aufklärerischen künstlerischen Arbeitsmethoden, wie sie durch Group Material oder Martha Rosler seit Mitte der 80er Jahre bekannt wurden. Die Ästhetik des Informativen hat ihre Wurzeln in der Konzeptkunst der späten 60er und frühen 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Seit den letzten beiden documenta-Ausstellungen 1997 und 2002 ist diese neue Art der Informationskunst als längst international verbreitete Arbeitsweise auch einem breiteren Publikum bekannt geworden. Der Versuch "Kunst mit einer Politik" zu verbinden oder zu betreiben (...) steht hinter diesen Institutionen- und kunstmarktkritischen Ansätzen. Die Grenzen zwischen kulturanthropologischer, literarischer, dokumentarischer und künstlerischer Herangehensweise verwischen dabei.

Judith Siegmund hatte in der Zusammenarbeit mit den Anwohnern beider Regionen biografische und gesellschaftliche Befindlichkeiten in einem einmaligen historischen Moment aufgespürt. Was sie primär interessierte, war die alltägliche Angst vor dem Fremden und der Alltagsrassismus; was sie als Ergebnis präsentiert, ist eine tiefgehende, manchmal monoton wirkende Serie der Momentaufnahmen eines gewöhnlichen Lebens in einer nicht gewöhnlichen politischen und wirtschaftlichen Situation. Und gerade in der Einstimmigkeit der meisten Aussagen liegt der besondere außerkünstlerische Wert dieses Projekts.

Ewa Maria Slaska, Berlin 2003



"Soziale Geräusche" Historische Feindbilder hindern grenzüberschreitende Gesellschaften am europäischen Erweiterungsprozeß

"Den Türken mag man nicht," erzählt ein Unbekannter aus der österreichischen Steiermark, "aber den Ali an der Ecke mit seiner Dönerbude, den mag man." Der Unterschied, der sich in der Wortwahl ausdrückt, der zwischen Mögen und Nichtmögen, scheint in der Distanz begründet zu sein. Aus der Ferne wirkt der Vertreter einer fernen Nation fremd und bedrohlich; aus der Nähe dagegen wirkt der beim Vornamen gekannte Imbissverkäufer freundlich.

Solche einfachen, aber bedenkenswerten Einsichten entstammen dem einzigartigen Kunstprojekt "Soziale Geräusche" der Berliner Künstlerin Judith Siegmund. Mit verschiedensten Medien wie Fragebögen, Interviews, Schriftinstallationen, Transparenten und Videoaufnahmen erforscht die Künstlerin mit beinahe wissenschaftlicher Genauigkeit die intimsten Gedanken, Ängste und Hoffnungen von "normalen" Bürgern bezüglich Fremden und Fremdenfeindlichkeit im Grenzgebiet der europäischen Union. Fragebögen wurden z.B. in Frankfurt (Oder) und in Słubice freiwillig und anonym ausgefüllt, in spezielle Briefkästen geworfen und anschließend zusammen mit gedruckten Zitaten aus Interviews und Videoaufnahmen in einer Installation im Museum für Junge Kunst in Frankfurt ausgestellt. Die von der Künstlerin gesammelten Sprachfetzen und Bilder sind nun auch in Buchform zu lesen und anzusehen.

Am Beispiel der Grenzen zwischen Deutschland und Polen und zwischen Österreich und Slowenien, die ab Mai 2004 in innereuropäische Grenzen verwandelt sein werden, gewinnt man einen Einblick in die menschlichen Folgen des europäischen Einigungsprozesses. Historische Erinnerungen und die Statements zukunftsweisender Politiker prägen das Selbstverständnis der Grenzbewohner. Dass dabei eine Kluft zwischen gutgemeinten Prinzipien und den tatsächlichen Ursachen und Folgen des eigenen Blicks auf Außenseiter und Einheimische entsteht, bleibt unbewusst. Doch das Projekt baut auf die Bereitwilligkeit der Beteiligten wie auch der Leser und Zuhörer, die inneren Grenzen zum anderen und zu den eigenen Gedankenreflexen aufzuwühlen bzw. in Frage zu stellen.

Im Gegensatz zu den tagtäglichen in der Presse erscheinenden Stellungnahmen von Politikern und Spezialisten über die wirtschaftliche und politische Integrationsfähigkeit der europäischen Beitrittsländer wagt sich Siegmund an die Menschen heran, die am unmittelbarsten von der Grenzöffnung betroffen sind. Das Ergebnis ist eine politisch-soziale Nahaufnahme. In Interviews und Fragebögen werden die Bewohner an beiden Seiten der Grenze in Frankfurt (Oder) und in Słubice sowie in der österreichischen und slowenischen Steiermark vor Ort gefragt, was es bedeutet, dem Fremden so nah und doch so fern zu sein, und auch selbst vom Fremden für fremd gehalten zu werden.

Im Alltag steckt implizit unser politisches Selbstverständnis. Basis für das als selbstverständlich Genommene sind Alter, Wohnort, Migration, politische Systeme (z.B. das ehemals sozialistische) und eine Sprache, die zur Verfügung steht. Auch in den Antworten, die zumeist handschriftlich in die Fragebögen eingetragen sind, schwingt dieses ganze Konglomerat an Voraussetzungen mit. "Wie wichtig ist es, ein Auto zu besitzen?" "Kann man zu einer Kultur gehören, wenn man nicht dort, wo sie existiert, geboren ist?" "Was verstehen Sie unter einer Kultur?" Die Antworten zu den Fragebögen sind nicht erstaunlich, zeugen jedoch von Nachdenken und Zweifeln, die sich in der verblüffenden Vielfalt der Werte, Hoffnungen, Ängste und Zweideutigkeiten zeigen. Die Sprachfetzen reichen von spontan geäußerten Selbstentäußerungen bis zu komplexen Analysen. Sie machen einen "blinden Fleck" deutlich, der durch die Politik des wirtschaftlich und politisch gesteuerten europäischen Integrationsprozesses entsteht. Selten zeigte die Kunst eine ausgeprägtere Verwandtschaft zu der von den Sozialwissenschaften entwickelten Methodik der "Geschichte von Unten" oder der "Geschichte der Mentalitäten" wie in der Arbeit Siegmunds.

Der aus der Ferne in den offiziellen Berichterstattungen erscheinenden Klarheit setzt auf diese Weise die Kunst eine aus der Nähe empfundenen Unklarheit entgegen. Ali, der Dönerverkäufer kommt uns als freundlicher Vertrauter vor, während der mit dem kollektiven Pronomen benannte "Türke" zum unfreundlichen Fremden erklärt wird. In diesem Gedankenvorgang steckt vielleicht der strukturelle Kern der in uns allen latent vorhandenen Fremdenfeindlichkeit, die aus der Ablehnung des vermeintlich Unvertrauten stammt.

Politische Identität kommt in Siegmunds Projekt via Sprache zum Ausdruck. Erst durch die Sprachgeste werden die Widersprüche und gelegentlichen Fiktionen deutlich, die wir mit unserer eigenen Biographien und mit den kollektiven historischen Erzählungen in Verbindung bringen. So berufen sich die österreichischen Bewohner der Steiermark häufig auf das Habsburgische Reich, eine Zeit, in der noch das Osmanische Reich das beliebte kollektive Gegenbild darstellte. Die Bewohner von Frankfurt (Oder) beziehen sich auf die kürzer zurückliegende kollektive Erinnerung der Zeit seit 1945 grenzen sich eher ab in Richtung Polen einerseits und die Richtung der alten Bundesrepublik anderseits. Das Zusammenleben an den Grenzen zu Europa zeichnet sich eben durch verschiedenartig gewurzelte Traditionsverständnisse aus.

Eine Bewohnerin der slowenischen Steiermark staunt über die Wirkung der Staatsgrenze auf das eigene politische Bewusstsein. Harmonie zwischen Österreichern und Slowenen auf beiden Seiten der Grenze kann sie sich erst dann vorstellen, wenn "sich die Leute von ihren Gedankenmustern befreien könnten". Offen bleibt jedoch die Frage, welche Leute und welche Gedankenmuster sie meint: die der Österreicher, der Slowenen und, ob die eigenen dazu gehören? In der Scheinanalyse von manchen Befragten steckt nicht nur Widerspruch, sondern auch die Selbsttäuschung. Durch analytische Urteile versuchen manche Leute, sich Alltagsrassismen zu entziehen, als ob sie nicht daran beteiligt wären – eine Form von "weicher" Fremdenfeindlichkeit, die aus einer latenten diskursiven aber nicht minder bedrohlichen Gewalt entstammt.

Die Ergebnisse des künstlerischen Forschungsprojekts sind – so die Künstlerin – selbst Teil eines vielleicht aufklärerischen Rezeptionsprozesses. Sie bieten Stoff – Assoziationen und Erlebnisse. Jedoch gehorchen sie auf diese Weise keineswegs dem Prinzip der Soziologie oder dem der Politikwissenschaft, sondern einem aus dem Stoff selbst entstehenden Prinzip der dokumentarischen Rohform, die die Betrachter zur gedanklichen Interaktion mit der Fremdheit und dem Fremdseins anstatt allein zu ästhetischer Kontemplation zwingt.

Der künstlerischen Neutralität treu bleibend, mischt sich Siegmund nicht in die Politik ein, sondern wühlt die erlebte Grenze zwischen Europa und Nichteuropa, zwischen dem Vertrauten und dem Fremden, auf. Dieses Projekt setzt die Bewohner von Randgebieten in den Mittelpunkt und gibt ihnen das Wort. Die Künstlerin schafft nicht das Schöne und vermittelt nicht zwischen mystischer Schönheit und irdischer Unvollkommenheit, sondern ist Katalysatorin von unüberhörbaren Sozialen Geräuschen.

Das auf deutsch, polnisch und slowenisch veröffentlichte Buch SOZIALE GERÄUSCHE (Verlag Forum Stadtpark, Graz, 2003) kostet 29,80 Euro.

Peter Carrier, 2004