Judith Siegmund :: Visual Art, Conceptual Art, Philosophy

Gegenwelten. Ästhetisierung versus Alltag?


(Kommunikationsraum, Dr.-Dormagen-Guffanti-Stiftung Köln) 2002

 


Die von dem Arzt Dr. Dormagen im 19.Jahrhundert gegründete Dormagen-Guffanti-Stiftung in Köln beherbergt auf einem parkähnlichen Gelände verschiedene soziale Einrichtungen: u.a. teilen sich ein städtisches Behindertenwohnheim, ein Hospiz und die Emmaus-Gemeinschaft das großzügige Areal am Stadtrand von Köln. Ein jährlich ausgeschriebenes Stipendium für bildende Künstler/innen, das zu einem halbjährigen Arbeitsaufenthalt vor Ort auffordert, ist ein Luxus, den sich der Stiftungsrat gerne leistet. War doch Dr. Dormagen selbst überzeugt vom anregenden und womöglich auch heilenden Einfluss der Kunst und verfolgte eine eigensinnige Form der »Kunsttherapie«: Er verordnete seinen Patient/innen von Zeit zu Zeit regelmäßiges Sitzen vor speziell zu diesem Zweck installierten Gemälden. Im folgenden Interview berichtet die Berliner Künstlerin Judith Siegmund, die Stipendiatin des Jahres 2002, von ihrer Arbeit mit den Bewohner/innen vor Ort. Die besonderen »Produktionsbedingungen« sowie die Reflektion der eigenen Position als Stipendiatin und Künstlerin spielten bei den Überlegungen zur Gestaltung des Aufenthalts in Köln eine wichtige Rolle.

Andrea Knobloch (infection manifesto)


Judith Siegmund: Rede zur Eröffnung der Ausstellung in der Dr.-Dormagen-Guffanti-Stiftung Köln, 2002:

Liebe Bewohner des Geländes, liebe Besucher des Geländes und der Ausstellung!

Ein relativ ungewöhnlicher Vorgang: Eine soziale Stiftung lädt sich Künstler ein, stellt diesen eine Wohnung und ein Atelier zur Verfügung und wartet ab, was geschieht. Aus der umgekehrten Blickrichtung stellt es sich folgendermaßen dar: Ich bekomme als Künstlerin einen Standard geboten, der es mir erlaubt, mich sechs Monate künstlerisch mit meiner neuen Umgebung auseinanderzusetzen. Plötzlich, quasi über Nacht, befinde ich mich auf einem Gelände, das verschiedensten sozialen Institutionen und einer Menge interessanter, wenn auch sehr unterschiedlicher Menschen ein Zuhause bietet. Die erste Frage, die sich aufdrängt, ist:Was wird von mir hier in diesem Kontext erwartet? Ich bemerke schnell, dass in allen Häusern engagiert gearbeitet und gelebt wird, verschiedene Therapien, Betreuungen, Beratungen, Kunstaktionen, Feste und andere Höhepunkte sind bereits in den Alltag der Bewohner integriert. Alles läuft seinen Gang, viele der bestehenden Möglichkeiten sind bereits wahrgenommen. Alles um mich herum arbeitet fleißig, wie in einem Ameisenhaufen. Um so mehr fragte ich mich anfangs: was ist meine Rolle in diesem funktionierenden Betrieb? Der entscheidende Punkt wird wohl der sein: ich gehöre nicht dazu, bin also nicht so geschäftig und dadurch kein Teil der Gesamtheit, ich komme sozusagen »von draußen« und habe das Privileg, keine klar umgrenzte Aufgabe erfüllen zu müssen.Wieso aber, frage ich mich weiter, leistet man sich jedes Jahr eine Künstlerin, ohne eine klar umrissene Aufgabe für sie bereitzuhalten? Die Beobachtungen führen mich zu allgemeineren Fragen über die Rolle von Künstlern im außerkünstlerischen Bereich, den man - etwas vergröbernd - auch als den der Gesellschaft bezeichnen kann. Eine Erwartung ist da, eine sehr große sogar. Es scheint mir, als ob man von Künstlern mehr erwartet als von anderen Berufsgruppen, von denen auch vor Ort viele vertreten sind.Was man sich aber speziell verspricht, das konnte mir bisher niemand so genau erklären. Bleibt also zuerst einmal das Gefühl festzuhalten, dass viel von einem als Künstlerin erwartet wird.

Ich versuche nun, mich dieser Frage aus einer anderen Perspektive heraus zu nähern: aus der Perspektive der Kunstgeschichte: Bis heute spielt die Vorstellung, dass es sich bei Künstlern um Genies, also um Günstlinge der Natur handeln muss, eine große Rolle. Günstling der Natur, das heißt also mit übermenschlichen Kräften begabt… Erlösungsaufgaben, Führungsansprüche für andere Menschen durch Künstler, das alles sind Ideen und Vorstellungen, die bereits vorkamen in der Geschichte der Kunst, zum Teil sind es Ideen der Epoche der Romantik, in der die Künstler und künstlerische Arbeitsweisen daraufhin abgeklopft wurden, ob sie das Potential besäßen, als Vorbilder für eine neue Gesellschaft zu fungieren. Zu Recht distanzieren sich heute viele Menschen im Kunstbetrieb von einer solchen, für uns überzogenen Beschreibung. Trotzdem besteht aber unsere heutige Kunstproduktion und ihre Deutung zu einem großen Teil aus Relikten dieser Vorstellungen vom (natürlich traditionell männlichen) Künstlergenie. »Es bleibt eine eigentlich bis heute in der modernen Gesellschaft gängige Gepflogenheit, dem Künstler als Stärke anzurechnen, was an allen Nicht-Künstlern als Schwäche gilt.« In diesen Satz von Cornelia Klinger ließe sich zwanglos meine Situation in der Dormagen-Guffanti Stiftung eintragen:

1. Erstens bin ich nicht so qualifiziert wie die meisten Menschen, die auf dem Stiftungsgelände arbeiten. Ich besitze keine therapeutische, pädagogische, pflegerische oder andere Ausbildung; ich bin - in diesem Sinne der Spezialisierung - Dilettantin.

2. Es gibt kein konkretes Aufgabenfeld für mich. Jeder anderen Person würde das negativ ausgelegt werden - bei einer Künstlerin ist das fast eine Selbstverständlichkeit.

3. Meine Arbeitsweise ist meiner eigenen Willkür unterworfen. Niemandem steht es ansonsten zu, sich mal für dies und mal für das zu interessieren, andere Menschen müssen das, was sie angefangen haben, ordentlich zu Ende bringen. Als Künstlerin darf ich mich wie ein Grashüpfer springend von einem Thema zum anderen, von einer Person zur beliebig nächsten bewegen.

Das klingt fast so, als ob sich künstlerische Arbeit jeder Form von Kritisierbarkeit entziehen würde. »Je stärker die Originalität eines Künstlergenies betont wird und je schwächer die Hoffnung auf eine für die Allgemeinheit exemplarische und wegweisende Funktion der Künstlerin wird, desto weitgehender wird diese auf ihre Besonderheit, aber damit auf Zufälligkeit und Willkürlichkeit reduziert.« Übersetzt würde das bedeuten: Künstler bekommen Geld und Anerkennung für Produkte oder für Handlungen, die eigentlich niemand mehr als konstruktive Anregung zur Rezeption empfindet, weil sie allein Ausdruck des Entfaltungswillens und des individuellen Ausdruckswillens des jeweiligen Künstlers sind. Diese Art zu arbeiten, die den Anspruch auf künstlerischen Selbstausdruck allein in den Vordergrund stellt, halte ich generell, aber besonders hier auf dem Gelände der Dr. Dormagen-Guffanti Stiftung für unangemessen und langweilig. Denn nur die Konfrontation aller gerade aufgezählten subjektiv determinierten »Zufälligkeit« und Phantasie mit konkreten, hier anstehenden Fragen, Beobachtungen und Kontakten lassen - aus der privilegierten Situation der Künstlerin und einem daraus resultierenden Blick - etwas Interessantes, es ließe sich sagen: eine »neue Mischung« entstehen. Diese Kunstproduktion ist nicht so leicht einzusehen, wie Tätigkeitsfelder anderer Berufe und dennoch bietet sie (im Idealfall ihres Gelingens) konkrete Einstiegs- und Anknüpfungspunkte - zum einen für die Bewohner und zum anderen dem Kunstpublikum. Kunst kann hier und in diesem Verständnis für die Bewohner als eine Gegenwelt zum Alltag begriffen werden, eine Gegenwelt, die etwas noch nicht Gehabtes, etwas Überraschendes bietet - zum Beispiel Konstellationen, die sich aus dem täglichen Leben nicht ergeben würden und die über die Ebene täglicher Dienstleistung hinausgeht. Für das Kunstpublikum könnte sich eine Gegenwelt zu dem ergeben, was man sich landläufig unter Kunst vorstellt, etwas, das es möglich macht, ein soziales bzw. gesellschaftliches Feld mit neuen Augen zu sehen. Wenn das ansatzweise in dieser kleinen Ausstellung gelänge, wäre ich zufrieden.

Wie bin ich konkret vorgegangen? Das mir zur Verfügung gestellte Atelier und das Café befinden sich beide symbolisch an einem zentralen Punkt im Gelände. Ich nahm diese symbolische Lage zum Anlass dafür, das Atelier für die Zeit meines Aufenthaltes zu einem Kommunikationsraum für alle interessierten Bewohner zu öffnen. Regelmäßig Sonntag vormittags traf ich mich mit den Bewohnern der verschiedenen Häuser zur Videovorführung mit anschließendem Gespräch. Hatte ich zum Anfang das Programm allein geboten, kamen von den Beteiligten selbst mehr und mehr Beiträge. So finden Sie heute im Atelier Dokumentationen unserer Sonntagstreffen ausgestellt, zusammen mit Arbeiten, die von Bewohnern angefertigt oder mitgebracht wurden. Mein Interesse gilt dabei dem Zusammentreffen verschiedener Lebenswelten, wie sie zum Beispiel stattfinden in den Momenten, in denen ein Jugendlicher Behinderten seinen breakdance vorführt oder ein anderer die Bewohner zu einer Diskussion über das Thema Grafitti herausfordert oder den Besuchern z.B. ein Video über alltägliche Fremdenfeindlichkeit vorgestellt wird. Zum Schluss endeten diese Treffen als sonntägliche Brunches mit eingebauter Videovorführung, bei denen – angefangen vom Kochkünstler bis zu dem, der nicht vor dem Fernseher stillsitzen kann – für jeden ein passender Part dabei war.

Der zweite Teil wird nun heute eröffnet. In ihm soll die Schnittstelle zwischen den Bewohnern und Mitarbeitern auf dem Stiftungsgelände und dem Kunstpublikum versucht werden. Besonders das Behindertenheim im Dr. Dormagen-Haus und die Emmaus-Gemeinschaft sind an einer Öffentlichkeit interessiert, die ihren Bewohnern eine Integration in die Mitte der Kölner Gesellschaft ermöglicht. Ich sehe die Ausstellung u.a. als einen Versuch an, für eine Woche die Kölner Mitte hierher an den Stadtrand zu holen und ihr in Form von Videopräsentationen einen Dialog anzubieten. Diesem Gedanken ist auch die Idee geschuldet, die Videos auf verschiedene Standorte auf dem Gelände zu verteilen. Ich bitte Sie, sich einen Zettel mit dem Plan zu nehmen und einfach loszugehen.Wenn Sie dem Ausstellungsplan und den Pfeilen folgen, dann erreichen Sie zum Schluss das Café, in dem Ihnen ein Imbiss und Getränke angeboten werden.