Judith Siegmund :: Visual Art, Conceptual Art, Philosophy

Erinnern ist Vergessen. Vergessen ist Erinnern.



„Das Foto ist ein Zeuge, aber ein Zeuge dessen, was nicht mehr ist“*

Auf mehreren Bildern sind saubere Straßen oder Wege zu sehen, gepflastert mit glatten Steinen, und an den Rändern wächst saftig-grünes Gras, das von Menschen liebevoll gepflegt wird. Manche Wege scheinen zu romantischen Orten zu führen, wie z. B. einer mittelalterlichen Burg, andere bilden die Infrastruktur eines Stadtviertels. Und obwohl auf den Fotos so gut wie keine Menschen zu sehen sind, werden die Spuren menschlicher Präsenz durch die abgebildeten Fahrräder, grellfarbigen Mülltonen oder geparkten Autos deutlich. Die malerischen Hausfassaden und auch das Mauerwerk einer Kirche sowie ein Gerüst deuten auf eine sorgsame Restaurierung und Instandhaltung der Bausubstanz. Was allerdings beim ersten Blick auf die Fotografien auffällt, ist das Fehlen von besonderen architektonischen oder landschaftlichen Merkmalen, mit denen sich eine Stadt identifiziert, die sie unterscheidbar machen und die sie als Teil ihrer Identität begreift.

Die Rede ist von der mehrteiligen fotografischen Serie „Erinnern ist Vergessen, Vergessen ist Erinnern“ von Judith Siegmund. Entstanden ist sie während des Aufenthalts der Künstlerin als Atelierstipendiatin in ihrer Heimatstadt Rostock zwischen September und Oktober 2010. Zufälligerweise befand sich ihr Atelier in der östlichen Altstadt, in welcher sie als Kind von 1972 bis 1979 aufwuchs. Und später, mit siebzehn, bezog sie im Jahr 1983 eine der vielen Schwarzwohnungen in derselben Gegend. Das Zusammentreffen der Umstände veranlasste die Künstlerin, die Straßen, Häuser und Spielplätze ihrer Kindheit und Jugend wieder zu besichtigen und zu dokumentieren. Daraus ist ein Projekt entstanden, das eher ungewöhnlich für Judith Siegmunds Praxis ist. Ihre Arbeit ist in der Regel partizipatorisch angelegt, die Protagonisten und Protagonistinnen ihrer Projekte sind oft Menschen, die in gesellschaftlichen Randzonen leben, die über ihre Schicksale, ihre Lebenssituation, ihre Träume, Hoffnungen und Ängste berichten. Diesmal „berichtet“ die Künstlerin über die eigene Vergangenheit und Geschichte und setzt sich zugleich mit Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik auseinander.

Aus der Reihe von Abbildungen einer anmutenden Stadtidylle fallen zwei Fotografien heraus. Eine Brache liegt inmitten eines, wie es aussieht, Gewerbeareals. Das Grundstück scheint lange Zeit unbenutzt gewesen zu sein, da Gras und Gebüsch den Platz für sich fest in Anspruch genommen haben. Darum herum pulsiert das Leben, es wird gebaut, nur das Gelände selbst bleibt von diesen Aktivitäten unberührt. Das zweite Bild ist das einer unsanierten Fassade, auf welcher Internationaler Klub der Seeleute zu lesen ist. Die Leuchtbuchstaben in der Typografie der 1970er Jahre, die wahrscheinlich schon lange nicht mehr geleuchtet haben, sind heutzutage eine Rarität und Objekt der Begierde von Antiquitäten-händlern und Sammlern retro-sozialistischer Gegenstände. Diese „unerwarteten“ Fotos lösen eine gewisse Irritation in der sonst etwas verträumt wirkenden Atmosphäre der Foto-Serie aus, denn sie positionieren die Künstlerin und ihr Projekt in einem bestimmten Kontext: im Kontext einer ehemaligen ostdeutschen Stadt (Rostock), zwanzig Jahre nach der Wende.**

Die letztere Behauptung ließe sich noch bestreiten – man begegnet schließlich verfallenen Orte und verlassenen Gebäude überall auf der Welt –, gäbe es nicht die begleitenden Texte. Nicht als Bildunterschrift, sondern als gleichberechtigten Teil der Arbeit hat Judith Siegmund zu jeder Aufnahme ihre persönlichen Erinnerungen hinzugefügt. Und so lautet nun der Text zum Bild mit der Brache: „Unterhalb des Abhangs an der Stadtmauer lag eine Fabrik, in der Türen und Fensterrahmen hergestellt wurden. Vom Fenster unseres Wohnzimmers aus sahen wir in die Fabrikanlagen. Weil Tag und Nacht gearbeitet wurde, machte die Fabrik viel Krach und produzierte auch viel Dreck.“ Und zum sogenannten „Klub der Seeleute“ gehört: „Im ‚Internationalen Klub der Seeleute‘ gingen viele ausländische Männer ein und aus, die wir beobachteten, aber niemals ansprachen. Die anderen Kinder erzählten, es würde sich eigentlich bei dem Club um ein Bordell handeln. Ich versuchte, mir den Club von innen und die in ihm arbeitenden Frauen vorzustellen. Prostitution war in der DDR verboten. Später, als ich wieder in der Gegend wohnte, zeigte mir jemand eine schöne Frau, die in der Altstadt wohnte, mit der Bemerkung, es würde sich hier um eine Prostituierte handeln.“  

Auf diese Weise lösen sich die Fotografien von ihrer scheinbaren Banalität und legen eine präzise Beobachtung gesellschaftlicher Prozesse offen, die eng mit den politischen, ökonomischen und sozialen Transformationen der zurückliegenden 23 Jahre verbunden sind.  

Ein Merkmal der raschen Veränderungen besonders im urbanen Raum der post-sozialistischen Städte Osteuropas ist die aufwendige Sanierung der alten Bausubstanz, die dazu führt, dass die Spuren der sozialistischen Vergangenheit systematisch in den Hintergrund treten oder gar aus dem Stadtbild verschwinden. Paradoxerweise gelten für die wiederaufgebauten Städte Zeitalter als identitätsstiftend, die weit in der Vergangenheit liegen, wie z. B. das Mittelalter, die Renaissance oder der Barock. Sie gelten wohl als „ideologiefrei“.*** Im Falle von Rostocks östlicher Altstadt werden die Überreste des Mittelalters akribisch restauriert und wird dem Stadtteil auf diese Weise neuer Glanz verliehen. Die Besucher und Besucherinnen flanieren entlang der Stadtmauer, heute ausgestattet mit einem modernen Beleuchtungssystem und gepflegten Gehwegen. Früher, in den 1970er Jahren, berichtet Judith Siegmund, war „… hinter der Stadtmauer unser Spielgebiet. Der enge Sandweg schlängelte sich durch wilde Pflanzen und Unkraut. Aus den blühenden Disteln steckten wir bunte Teppiche zusammen, aus den Blüten der Taubnesseln saugten wir den Honig.“ Wenn man sich das Foto der restaurierten Stadtmauer anschaut, wird klar, dass den jungen Bewohnern und Bewohnerinnen des bereits gentrifizierten Stadtteils solche Erlebnisse vorenthalten bleiben werden. 

Das Projekt von Judith Siegmund ist allerdings kein nostalgisches, trotz der nostalgischen Stimmung, die aus den Kindheitserinnerungen hervorgehen mag. Der Künstlerin geht es auch nicht darum, die Zeiten menschlicher Unterdrückung und Erniedrigung zu glorifizieren oder das Streben nach einer besseren Lebensqualität zu kritisieren. Sie macht stattdessen auf einen Prozess aufmerksam, der weniger mit dem Erinnern als mit dem Ausblenden gewisser historischer Ereignisse zu tun hat. Deutlich wird, dass politische und ökonomische Interessen bei der Interpretation und Darstellung der Geschichte immer eine Rolle gespielt haben, sowohl während des sozialistischen Regimes als auch in der kapitalistischen Gesellschaft. Jede Zeit bringt ihre Ideale und Wertvorstellungen mit sich und versucht diese durchzusetzen. Dabei werden historische Fakten, die zur Legitimation der jeweiligen gesellschaftlichen Idealvorstellungen beitragen, in den Vordergrund gerückt, andere treten in den Hintergrund und werden schließlich vergessen.

Ein Blick auf die offiziellen städtischen Internetportale heute zeigt eine Auswahl an Informationen bzw. Bildaufnahmen, die historisch gesehen etwas sprunghaft erscheint. Die Aufmerksamkeit der potenziellen Besucher und Besucherinnen wird, besonders durch die bildliche Darstellung, die nur einen bestimmten Ausschnitt der Stadt wiedergibt, auf Sehenswürdigkeiten längst vergangener Epochen oder auf hochmoderne Baukomplexe und Vergnügungsorte gelenkt. Zwecks größerer Attraktivität entsteht eine (durch Ideologie und Marketing bedingte) Paradoxie von Zeitlosigkeit und Zeitbezogenheit. Man soll einerseits glauben, es sei schon immer so gewesen, doch andererseits ist genau dieser Ansatz einer spezifischen Zeit und gesellschaftlichen Perspektive geschuldet. Ein Spaziergang durch die Straßen und Stadtviertel zeigt, dass sehr unterschiedliche „Zeitgeiste“ und gesellschaftspolitische Bedingungen sowohl in der urbanen Struktur und Substanz als auch im Leben der Menschen ihre Spuren hinterlassen haben.

Auf derselben Strategie bei der Bildaufnahme, nämlich das Fokussieren auf ein bestimmtes Stadtmotiv, aber mit anderem konzeptuellem Hintergrund, baut Judith Siegmund ihre fotografische Serie auf. Ihre scheinbar zufälligen, unspektakulär wirkenden Aufnahmen, die an Schnappschüsse erinnern, sind präzise überlegt und aus einem bewusst gewählten Standpunkt aufgenommen. Sie stehen im Gegensatz zur Vogelperspektive der offiziellen Repräsentation und zeigen einen Blick von „innerhalb“, aus der Perspektive einer Beobachterin, die den Wechsel in den Einstellungen und Ideologien miterlebt hat. Die Kamerapositionierung entspricht einer ganz bestimmten Erinnerung aus der Kindheit. Genau an dieser Ecke, an welcher heute ein Gebüsch wächst, war früher ein Feuerlöscher, zwischen den beiden auf der Straße geparkten Autos befand sich ein „kleiner langweiliger Spielplatz“. An der Stelle des zeitgemäß restaurierten Joachim-Slüter-Denkmals standen dessen vom Krieg beschädigte Ruinen, die sich wunderbar zum Klettern eigneten, und so weiter und so fort. Das von der Künstlerin eingesetzte Medium Fotografie spielt bei dem Erinnerungsprojekt eine entscheidende Rolle. Veränderungen der Stadt werden für die künftigen Generationen festgehalten. Siegmund tut dies allerdings nicht aus der Sicht einer konsumorientierten Marketingstrategie, sondern aus einer sehr subjektiven Perspektive. Die Fragmentierung der fotografischen Aufnahmen verweist auf die Unmöglichkeit, ein authentisches Bild der Vergangenheit oder auch Gegenwart zu schaffen. Judith Siegmund bietet keinen distanzierten allumfassenden Blick an. Darum hat sie auch als Form ihres Projekts eine Mischung aus Text- und Bildausschnitten gewählt, die jeweils eine starke Verbindung zwischen „Damals“ und „Heute“ herstellen.  

Judith Siegmund löst das fotografische Medium von seiner längst umstrittenen Funktion, „objektiv“ oder „neutral“ Realität wiederzugeben und verwandelt es in einen Verbündeten der subjektiven künstlerischen Wahrnehmung. Diese Geste verortet das Projekt in einer Reihe künstlerischer Arbeiten, die seit den 1970er Jahren mittels einer präzise kalkulierten Bildästhetik Alternativen zur ortsbeschreibenden Fotografie anbieten. Die Fotografien vermeiden bewusst den umfassenden Panoramablick, sie sind so aufgenommen, dass sie die unspektakuläre Banalität des abgebildeten Objekts unterstreichen. Da manchmal ein angeblich kleines unbedeutendes Detail eine bestimmte Geschichte wieder ins menschliche Bewusstsein rufen kann, bilden bei Siegmund oft ein Fenster, eine Backsteinfassade oder ein Zaun das Zentrum der Fotos. Damit wird eine verstärkte Konzentration auf eine Geschichte ermöglicht, die die Künstlerin zu erzählen hat. Diese Geschichte macht Fotografie selbst zu einem Zeugen der Zeit.

Ilina Koralova, 2012

* Zitat von Roland Barthes: „Über Fotografie. Interview mit Angelo Schwarz“ (1977), in: Paradigma Fotografie – Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Herausgegeben von Herta Wolf. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2002.

** Zum Zeitpunkt des Projektentstehens

*** Und an manchen osteuropäischen Orten, welche – aus historischen Gründen – keine signifikanten Architekturdenkmäler aus diesen Epochen mehr aufweisen, werden diese einfach nachgebaut. 

 

Katalog "Erinnern ist Vergessen. Vergessen ist Erinnern" deutsch/englisch, 2012


Rede von Holger Stark (Galerie Wolkenbank Rostock) anlässlich der Ausstellung im Kunstverein Rostock, April 2012