Judith Siegmund :: Visual Art, Conceptual Art, Philosophy

Starter Kompakt. Polnisch für Anfänger


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(Expressbusreisen mit Polnisch-Unterricht im Bus) 2004

 


Im Jahr 2004, dem Beitrittsjahr Polens zur Europäischen Union, gab es besonders viel Geld für Kunstprojekte entlang der deutsch-polnischen Grenze. Weil die Grenzbewohner auf beiden Seiten mit einer Reihe von künstlerischen, sozialen und politischen Aktionen aus Anlaß des Beitritts gesegnet waren, entschied ich mich, mit Starter Kompakt. Polnisch für Anfänger auf die Berliner als Zielgruppe zu konzentrieren - und zwar auf diejenigen Berliner, die "mit dem Rücken zur Oder stehen und in Richtung Westen schauen", wie es ein polnischer Schriftsteller formulierte. Zusammen mit Ewa Maria Slaska entwickelte ich das Konzept für eine Busreise nach Słubice inklusive Polnischunterricht im Bus. Über Flyer, Presse und Radio warben wir für die Expresskursreise. Es gab mehr Interessierte als von den drei Bussen mit jeweils 50 Plätzen mitgenommen werden konnten.

Vom Treffpunkt Polnisches Kulturinstitut Berlin verließen wir im Bus Berlin in Richtung Osten. Die Teilnehmer, tatsächlich motiviert polnisch zu lernen, quälten sich mit Zischlauten und romantischen Vokabeln, die Ewa Maria ausgesucht hatte, um ihnen das gesamte polnische Alphabet beizubringen. Über die Auswahl der Wörter ist von den Teilnehmern viel nachgedacht und sogar geschrieben worden. Handelte es sich bei der Auswahl um etwas typisch Polnisches? Oder spiegelten die Vokabeln die individuellen Vorlieben der Polnischlehrerin Ewa Maria Slaska wieder? Sichtlich erholungsbedürftig nach 1,5 Stunden Polnischunterricht, stürzten sich die Reiseteilnehmer auf das Buffet mit Kaffee, Tee und Keksen, das Michael Kurzwelly für sie im Słubfurter Informationszentrum vorbereitet hatte. Słubfurt City, eine Stadt, die eingetragen ist ins europäische Städteregister (nachzulesen unter www.Slubfurt.net), wurde in einer kurzen Ansprache von Kurzwelly nahegebracht. Zu Fuß ging es dann über die Grenze. An vielen Stationen konnten nun die erworbenen Kenntnisse eingesetzt werden. Auf dem kleinen Gemüsemarkt versuchten wir Kontakt mit den Wachmännern aufzunehmen, die Słubice vor polnischen Hooligans, aber auch vor deutschen Neonazis schützen, vor deutschen Rechten, die zum Erwerb ihrer verbotenen Musik über die Grenze kommen. Im Cargohotel war das Luxusambiente zu besichtigen, das in den 80er Jahren für LKW–Fahrer, die damals mit ihren Trucks in Richtung Westen fuhren, eingerichtet wurde.

Auf dem Gelände eines jüdischen Friedhofs, von dem alle Grabsteine verschwunden sind und dessen Terrain gleich zweimal an Privatpersonen verkauft wurde: einmal im Dritten Reich und einmal im Sozialismus, hörten wir ein polnisches Referat über die Geschichte des Ortes, vorgetragen von einer Mitarbeiterin des Deutsch-Polnischen Dokumentations– und Medienzentrums, mit Übersetzung ins Deutsche. Das Friedhofsgelände, auf dem heute die Ruine eines Bordells verwittert, wird markiert von einem Gedenkstein, den die Gemeinde Słubice aufbauen ließ, und drei leeren Gräbern, die, mit Stacheldraht umzäunt, zur Straße hin errichtet wurden. An diesem Ort gab es regelmäßig Auseinandersetzungen, etwa über die Art, wie man ein Referat zu halten habe über deutschen und polnischen Antisemitismus und anderes – in jedem Durchgang kam es zu emotionalen Spannungen. Die Bordellruine wurde von Fahrt zu Fahrt immer zerstörter, irgendjemand von den Behörden hatte wohl Wind bekommen von unseren Führungen und betrieb nun den Abriß der Ruine.

Im Stadion von Słubice – vor dem Krieg war es das Stadion, das von den Frankfurtern genutzt wurde – spekulierten wir zusammen mit der Pressesprecherin des Bürgermeisters darüber, ob hier wohl auch Hitler eine Ansprache gehalten hat. Diese Frage bekam eine seltsame Wichtigkeit. Wohl jedes Stadion wurde in der Zeit des Nationalsozialismus für Ansprachen und große Versammlungen genutzt, so auch dieses. Heute steht es unter Denkmalschutz, über seine Geschichte berichtete uns ebenfalls auf polnisch mit deutscher Übersetzung die Pressesprecherin, die uns auch im Namen des Bürgermeisters von Słubice grüßen ließ. Ein Spaziergang an der Oder und ein Film über eine Stadtführung durch Słubfurt im Bierzelt beschlossen den Tag.

Judith Siegmund

 

Marc Lippuner über Starter Kompakt in: www.neon.de