Judith Siegmund :: Visual Art, Conceptual Art, Philosophy

Typescripts


Text banners in the St. Laurentius Church in Schönberg, Germany, quoted from Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands

 


Revierkämpfe und die Poesie des Widerspruchs

Glaube, Zweifel, Widerspruch oder die Frage nach der Kategorisierung und Interpretation von Widerstandsbewegungen … – wie verändern sich die Bedingungen und Positionen zwischen Glaube/Ideologie und Widerstand und welche Kämpfe um die Deutungshoheit werden ausgetragen? Vor allem an welchen Orten werden sie sichtbar und mit welchen Mitteln werden sie gefochten? Ist Kunst widerständig, wenn sie eine Form des Lebens und ihr Unterschied zur Kunst aufgehoben ist? Judith Siegmund erforscht das Widerstandspotenzial ästhetischer Systeme im Kontext historischer Entwicklungen.

Auf Einladung des Schönberger Musiksommers 2014, sich mit dem Thema „25 Jahre friedliche Revolution“ auseinanderzusetzen, installierte Judith Siegmund sieben großformatige Transparente (Typoskripte) entlang des Emporen-Geländers in der St.-Laurentius-Kirche. Die an Banner erinnernden Typoskripte konfrontierten die KirchenbesucherInnen mit Textzitaten aus Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands. Judith Siegmund wählte Zitate zu ästhetischen Fragestellungen des Romans, ordnete sie neu an und gab ihnen Überschriften. Die Textzitate thematisieren Fragen nach der Rolle der Kunst im historischen emanzipativen Projekt und eröffnen durch die neue textliche Anordnung auch neue Möglichkeiten der Interpretation. Peter Weiss steht für eine Position der Unzugehörigkeit, aus der er, sowohl auf künstlerischer als auch auf gesellschaftspolitischer Ebene, Zuordnungsprozesse analysierte und Widerstandspraxen entwickelte. Aus diesem Zwischenbereich heraus beschäftigte er sich sowohl mit Bedingungen und Folgewirkungen künstlerischer und politischer Prozesse als auch mit deren Widersprüchlichkeiten und ideologischen Gegensätzen. In der Ästhetik des Widerstands thematisierte er den Widerstand gegen den Faschismus aus historischer und aus kulturhistorischer Sicht der Arbeiterbewegung. Judith Siegmund fragt hier indirekt nach historischen und politischen Zuordnungsprozessen im Kontext der deutschen Wiedervereinigung. Der Titel Typoskripte verweist auf Peter Weiss’ Schreibtechnik. Er tippte seine Texte auf großformatiges Papier und vermied handschriftliche Korrekturen.

Widerstandsreviere

Judith Siegmund reflektiert damit das Verhältnis von Kunst und Politik und verweist auf verdrängte Zonen, sowohl in der offiziellen Geschichtsschreibung als auch in der subjektiven Erinnerung. In Referenz auf Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands knüpft sie an dessen dialektische Praxis an. Positionen und Gegenpositionen werden experimentell durchgespielt und von unterschiedlichen Seiten beleuchtet, Faktisches und Fiktives überprüft, Zwiespalt und Ungelöstes sichtbar gemacht, um sich einer festgeschriebenen Interpretation von gesellschaftlichen Ereignissen, von Geschichte und Kunst entgegenzusetzen. Selbstbefragung und Positionierung der Fragestellenden sind Teil dieses Prozesses. Judith Siegmund greift die von Peter Weiss gestellte Frage auf, was Kunst mit sozialer Wirklichkeit zu tun hat, und richtet sie an die BesucherInnen als Frage nach deren eigener Geschichte und momentanen Lebensrealität. Die von Peter Weiss gestellte Frage, welche Rolle Kunst und Geschichte, deren Produktion, Rezeption und Interpretation innerhalb emanzipatorischer Prozesse spielen kann, stellt sie im Kontext des wiedervereinten Deutschlands. Es ist die immer wieder neu zu stellende Frage nach dem emanzipatorischen Subjekt.

Der Streit um die Darstellung und Interpretation der eigenen Geschichte stellt eine der Voraussetzungen für emanzipatorisches Handeln in der Gegenwart dar. Welche Relevanz hat Widerstand als Form der Selbstbestimmung und als ästhetische Praxis heute? Peter Weiss’ Romanbericht, wie er die Ästhetik des Widerstands selbst bezeichnete, stellt die ideologischen Positionen des Kalten Krieges, die im Moment ja gerade wieder reetabliert werden, einander gegenüber. Die Bezeichnung ‚Romanbericht‘ verbindet fiktive und dokumentarische Erzählung und stellt Beziehungen der Realitätsebenen, zwischen Wirklichkeit und Fiktion her: Können wir gegenwärtig noch unterscheiden, welche Erzählungen welcher Kategorie zugeordnet werden, was als faktischer und was als fiktiver Anteil identifiziert werden muss? Oder werden die Zuordnungen nicht einmal mehr in Frage gestellt – etwa in dem Sinne, dass Handlungs- und Verhaltensweisen, die im Namen der Freiheit propagiert werden, tatsächlich eine Reduktion von Freiheit bedeuten?

Produktionsbedingungen

Judith Siegmund knüpft hier an, indem sie Wirklichkeit und Imaginäres, Politik und Ästhetik auf ihre Widersprüchlichkeiten und Folgewirkungen hin überprüft. In den Typoskripten werden aus der Ästhetik des Widerstands zitierte Textpassagen zum Thema ‚Kunst als politischer Handlungsraum und Handlungsmöglichkeit‘ zusammengefügt, Textstellen ausgewählt, neu angeordnet und durch Überschriften interpretiert. Die Überschriften fassen sich widersprechende Meinungen über die Politizität der Kunst zusammen: Kunst als politisches Handeln, das Verhältnis von Realität und Kunst als Einheit, die Unfreiheit der Kunst, Kunst als Waffe des Klassenkampfes und Kunst im Kontext von Herrschaftserzählung und deren Reproduktion.

Judith Siegmunds Prozess der Auswahl und der Neuanordnung bezieht sich auf ästhetische Formen des Widerstands in Peter Weiss’ Romanbericht. Er wählte eine Vielzahl von meist traditionellen klassischen Werken aus der Kulturgeschichte aus, die er von seinen Protagonisten umdeuten lässt, um emanzipatorische Subjektwerdungsmöglichkeiten durch die Reinterpretation der Werke aus proletarischer Sicht heraus aufzuzeigen. Durch das Sichtbarmachen der Produktionsbedingungen und deren gesellschaftspolitischer Kontexte wird die Herrschaftserzählung und deren Reproduktion in der Kunstgeschichte zur Diskussion gestellt. Kategorien werden aufgebrochen, Widersprüche als solche analysiert, Interpretationshoheit in Frage gestellt. Judith Siegmund verwendet Peter Weiss’ Text als Material, ordnet ausgewählte Texteinheiten neu, um festgeschriebene Ordnungen und Zuordnungen aufzubrechen und 25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung Fragen nach Erinnerung, Identität, politischem Bewusstsein und Geschichte sowie deren Interpretation neu zu stellen. Welche Relevanz haben die von Peter Weiss gestellten Fragen im Bezug auf aktuelle Diskurse bzw. welche Fragestellungen sind heute noch von Relevanz? Und wie kann das durch Kunst sichtbar gemacht werden?

Klassenkampf von oben nach unten

Judith Siegmund widmet dem Verhältnis von Kunst und Klassenkampf Textzitate auf zwei Transparenten und subsumiert sie unter den Überschriften „Die Kunst ist eine Waffe im Klassenkampf“ und „Etwas an der Kunst geht über ihre Eigenschaft, Klassenkampf zu sein, hinaus. Dieses Etwas ist unfassbar“. Der auf Ungleichheiten beruhende Klassenkampf wird nicht nur auf ökonomischer, sondern ebenso auf kultureller Ebene ausgetragen, auf der hegemoniale Felder aufgebaut werden, wie das Antonio Gramsci und nach ihm Pierre Bourdieu gezeigt haben. Peter Weiss übernimmt die klassenkämpferische Praxis als künstlerische Form der Produktion und Interpretation, um sich gegen Fremdbestimmung und Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Widersprüchlichkeiten, die dialektische Methode und der Kampf um die Neuanordnung der Dinge, der Sichtweisen und der Verhältnisse verweisen auf die Irrationalität der behaupteten Grenzen von Faktischem und Fiktivem. Kunst wird bei ihm zu einer widerständigen Praxis, deren poetische Umsetzung darüber hinausgehen kann, nur Klassenkampf zu sein. Judith Siegmund fragt mit Hilfe der Installation, worauf sich der Begriff Klassenkampf heute beziehen kann, warum der Begriff nach 1989 verschwunden ist bzw. eingemottet wurde. Was sind die Klassen von heute, wer kämpft gegen wen und welche Formen des Widerstands sind zu beobachten? Der Begriff Klasse wird vermieden, im Osten wie im Westen. Durch die Leugnung von Klassen werden die darin festgeschriebenen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten geleugnet. Keine Klassen, kein Klassenkampf. Theoretiker der Postmoderne erklärten das Ende der Ideologien und der um sie stattfindenden Kämpfe bereits vor dem Fall der Mauer. Neoliberale Euphemismen tragen dazu bei, die Ökonomisierung aller Bereiche als schicken Lebensstil aufrechtzuerhalten – im Namen der als alternativlos gesetzten Effizienz und Verwertbarkeit. Man spricht von den Reichen und den Armen, der Elite und den Prekären, den Arbeitslosen und den MigrantInnen. Letzteren werden Rechte, Bürgerrechte auf Grund ihrer Besitzlosigkeit und Nichtzugehörigkeit zu einer Klasse abgesprochen. Wilhelm Heitmeyer konstatiert „eine Art semantischen Klassenkampf von oben gegen ‚die da unten‘ “[1]. Je skrupelloser die Ausbeutung, desto größer die Angst vor den sozial schwachen Bevölkerungsschichten, wenn man beispielsweise an die Massenüberwachung denkt, die neben der ökonomischen Verwertung als Ausdruck eines zunehmenden Misstrauens seitens der Regierungen gegenüber der Bevölkerung gesehen werden kann. Dort scheint jedoch das Ausmaß der zunehmenden Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Entmachtung und Subjekt-Entwertung erst ansatzweise erkannt zu werden. Die Mechanismen, die diese Ideologie am Laufen halten, funktionieren perfekt, trotz der dadurch produzierten Krisen, die sich radikal verschärfen. Die Aufspaltung in Krisen- und Nichtkrisenländer symbolisiert die Kategorisierung in Arm und Reich auf Länderebene. Hier kommt die Austeritätspolitik ins Spiel, die soziale Gegensätze verschärft oder gar erst  konstituiert. Jede/r will Teil einer Elite sein, es wird um einen elitären Platz in der Gesellschaft gekämpft und nicht gegen Elitisierung. Die Klassenschranke Bildung wurde wieder vermehrt zu einer undurchlässigen Hürde für Kinder und Jugendliche aus Familien ohne die finanziellen Möglichkeiten des Bürgertums.

Geopolitische und ideologische Grenzen

Die Definition von und die Zuordnung zu bestimmten sozialen Schichten und ideologischen Lagern erfolgt über ökonomische Kriterien und Wertsetzungen – durch sie wird Realität geschaffen. Die dadurch errichteten Grenzen zwischen Elend und Wohlstand werden zunehmend unüberwindbar. Judith Siegmund zeigt neben den Typoskripten eine weitere  Arbeit: Remembering Borders. Auf einem großformatigen Foto sind zwei Schilder zu sehen. Judith Siegmund platzierte neben einem Schild an der Bundesstraße 208, das an der Landesgrenze zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein an die ehemalige deutsch-deutsche Grenze erinnert, ein zweites Schild, welches die Verschiebung der geopolitischen und ideologischen Trennlinie an die Außengrenzen Europas zeigt.

Die Auflösung der innerdeutschen Grenze wird der Errichtung von Grenzen an den Rändern Europas gegenübergestellt, die Kontinente voneinander trennen. Der ideologische Gegensatz wurde von einem Kampf um das nackte Überleben abgelöst. Eine digitale Anzeigetafel gibt Auskunft über die an den Grenzen Europas auf der Flucht gestorbenen Menschen. Das Errichten von Grenzen, deren ideologische und juristische Legitimationen, repräsentieren eine aktuelle Version von Klassenkampf: An den Grenzen werden Zuordnungsprozesse, Ausschlussmechanismen und deren Folgen sichtbar; illegal sind jene, die arm sind, das Überqueren der Grenzen bedeutet Lebensgefahr. Wer hat ein Recht auf Lebensraum und Lebenszeit und wer nicht? Und vor allem, wer bestimmt über räumliche, zeitliche und gesellschaftliche Grenzen und setzt sie fest? Nicht nur festgeschriebene Grenzen machen uns zu schaffen, sondern auch begrenzte Erinnerung, wodurch die Fähigkeit zur Einschätzung und Interpretation der gegenwärtigen Ereignisse eingeschränkt wird. Peter Weiss lotete die Grenzen von Kunst im Kontext der Herrschaftserzählung aus, überprüfte gegensätzliche Standpunkte und deren gesellschaftliche und künstlerische Konsequenzen. Grenzüberschreitungen sind bei ihm ästhetisches Programm, um sich von gesellschaftlichen, sozialen, künstlerischen und ideologischen Zuordnungen zu emanzipieren. Judith Siegmund knüpft hier an: Faktenrecherche und poetische Fiktionalisierung bestimmen ihr experimentelles Denken in Relation zur Wirklichkeit.

Glaubensreviere

Die Form der Typoskripte und deren Positionierung im Kirchenraum erinnert an den Charakter von politischen oder ästhetischen Manifesten. Im Versammlungsraum der Religionsgemeinde fordern säkulare Fragen zu Ästhetik, Politik und Widerstand Aufmerksamkeit ein. In protestantischer Tradition, wenn man so will, erfolgt die Kontaktaufnahme/Kommunikation durch Texte und nicht durch Bilder: Gebrauch und Zweck von Bildern sowie die Diskrepanz zwischen Abgebildetem und Abbild wurden bereits vor und zu Luthers Zeiten diskutiert. Vor allem stand der Streit um die Erlösung durch Stiftungen, sowohl auf realer als auch auf repräsentativer Ebene, im Mittelpunkt. Kunst wurde als repräsentatives Mittel eingesetzt, um sich Erlösung finanziell zu erwerben. Was ist der Zweck von Kunst? Wo liegt die Grenze zur ideologischen oder ökonomischen Instrumentalisierung?

In einem von Judith Siegmund ausgewählten Zitat lässt Peter Weiss seinen Protagonisten Coppi sagen: „Sie [die Kunst] ist zweckmäßig …, sie hat nicht dem zu entsprechen, was sich ein einzelner ausdenkt, sondern dem, was sich die Mehrzahl von ihr erwartet.“ Aber was erwartet sich die Mehrzahl der Menschen von der Kunst? Liegt die Verantwortung nicht im Nichterfüllen von Erwartungen, um ideologische Instrumentalisierung, ökonomische Verwertung, hegemoniale Ordnungsstrukturen und Herrschaftssysteme in Frage stellen zu können? Und reduziert Glaube, an was auch immer, nicht Kritikfähigkeit? Werden durch Glaubenstreue (Religionen oder Ideologien gegenüber) nicht Gegensätze, Widersprüche und Realität gleichzeitig geleugnet und fiktionalisiert?

Judith Siegmund konfrontiert die Schönberger Glaubensgemeinschaft mit diesen Fragen zur eigenen Geschichte und den damit verbundenen Glaubensbekenntnissen. Zugegebenermaßen keine leichten Fragen; Fragen, die überfordern können. Selbstpositionierung und ‑definition sind nicht so leicht zu haben. Der Machtkampf um die Interpretation von Geschichte ist fortdauernd. Was kann dem Vergessen oder der Verdrängung entgegengesetzt werden? 25 Jahre friedliche Revolution – das wurde und wird als erfolgreiches Ende von Widerstand verstanden. Der ab dem Jahr 1989 dominierende Neoliberalismus wurde zum Inbegriff der Freiheit erklärt. Gemeint waren vor allem Konsumfreiheit, unregulierte Märkte und Sozialabbau.

Neue Formen des Widerstandes benötigen Interpretationsfähigkeit und Entwicklungszeit, was wiederum durch gesteigerte Abhängigkeiten, entweder durch Mehrarbeit oder durch Arbeitslosigkeit verhindert wird. Kunst als Waffe, die mehr als nur Klassenkampf ist, kann politische Möglichkeitsspektren poetisch eröffnen. Judith Siegmunds Typoskripte können als Aufforderung gelesen werden, sich der eigenen Geschichte zu erinnern, um emanzipatorische Subjektpositionierungen zu entwickeln und Zukunft selbst zu bestimmen. Die in den unterschiedlichen Revieren tobenden Machtkämpfe zur Sicherung der bestehenden Territorien und festgeschriebenen Kategorien radikalisieren sich, und die Kunst ist davon nicht ausgenommen. Widerständige Praxen, die sowohl Definitionsmacht und Interpretationshoheit als auch die Vereinnahmungsstrategien Effizienz und Verwertung in Frage stellen, sind mehr denn je gefragt.

Sabine Winkler



[1]      Gabriele Goettle, Rette sich, wer kann, in: taz vom 27.2. 2012, www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/