Judith Siegmund :: Visual Art, Conceptual Art, Philosophy

A Vocation – Job – Daily Grind? Labor, Work and Action


(Hannah Arendt Reading Courses) 2006

 


Weißenfels in Saxony-Anhalt is a working-class town, which is currently characterized by high unemployment. At the Hannah Arendt reading courses, I brought people together from quite diverse social classes in this town and in Steinhöfel, in Brandenburg. At the end of the courses, I asked them to make a statement in front of the camera. The theme of “work” was the central focus: both as one of Arendt’s theoretical concepts, but above all as an area of experience that had been quite familiar at one time, but which is starting to become elusive today. The anticipated routine of regular, full employment has fallen apart and is beginning to become restructured. Improvization, irritation and uncertainty have become a part of the reality of life. The life experiences, around whose irritation art has focused in the past, have become an irritation themselves. Artistic work is also not exempt from this. Rather than celebrating irritation, it raises questions about how restructuring and collaborative action can be possible under the weight of such perspectives. Consequently, it makes it clear that art isn't tied down to functions for an audience. Instead, it lets the social experience come close to it, reshapes it and changes itself in the process.

I’d like to thank all the course participants who have become part of the exhibition, as well as those who didn’t dare appear before the camera. I am also grateful to the organizations Brandsanierung Weißenfel and to the LandKunstLeben e.V. Steinhöfel, which invited me to hold the Hannah Arendt reading courses.

Judith Siegmund


The English version of this website is still a "work in progress." Thank
you for your understanding.

Berufung - Job - Maloche? Kunst mit Arendt zum Ende der Arbeit

Die Städte, die an der Zuglinie zwischen Berlin und Erfurt liegen, seien verwunschene Märchenreiche, die langsam verfallen und von der Natur wieder überwuchert werden, die nun wieder in der Versenkung verschwinden. So in etwa erzählte es mir ein Akademiker der – pendelnd zwischen Berlin und Erfurt – auch Weißenfels regelmäßig kreuzt, auf einer Berliner Party. Die Leute, die in diesen Märchenstädten wohnten, seien die Zurückgelassenen, solche, die es nicht geschafft hätten, wegzugehen. Diese poetische Beschreibung des westdeutschen Blicks auf ostdeutsche schrumpfende Städte ist wohl exemplarisch für eine bestimmte Außensicht auf die Region, in der Weißenfels liegt. In den Feuilletons der überregionalen Zeitungen, aus der Blickrichtung der großen Städte, aus der Perspektive der Universitäten (deren Mitarbeiter zu ihren Veranstaltungen anreisen, um dann wieder zu verschwinden) liegt Weißenfels in einer Region des Verfallens und Verschwindens. Mit solch einer Beschreibung bekommt das Wort „Leuchtturm“, das als Maßstab sowohl auf Universitäten als auch auf kulturelle Institutionen angewandt wird, eine ganz metaphorische Bedeutung. Die Leuchttürme schauen hervor aus dem organischen Meer der Hartz-IV-Empfänger, der Industrieruinen und der Dagebliebenen. Aber zwischen denen, die solche Beschreibungen vornehmen, und denen, die beschrieben werden, scheint es keine Kommunikation zu geben. Das erinnert an einen Gedanken von Jacques Rancière, der in seinem Buch La Mésentente (dt.:Das Unvernehmen) Subjekte „die im Gespräch gezählt werden“ von denen, die nicht gezählt werden, unterscheidet. Die Metapher des „Gezählt-Seins“ beschreibt nicht die inhaltliche Qualität des Gesagten, sondern die Bedeutung, die den Sprechenden bereits vor dem Sprechen zukommt – oder eben nicht.

Durchreisende führen die Debatte über die kleinen Städte und haben den Status und Einfluss, deren Situation mit ihren Argumenten zu definieren. Da Durchfahren eine Art ist, sich zu entziehen (und nicht eine Art, sich zu beteiligen, wie das ein bildungsbürgerlicher Begriff des Reisens vielleicht nahelegt), können die Durchfahrenden nicht vernehmen, was die Leute, deren Weg sie kreuzen und über die sie reden, selbst zu sagen hätten. Den Bewohnern wird – wie Rancière es beschreiben würde – der Status des sprechenden Subjekts gar nicht erst zuerkannt. Ihre Äußerungen werden nicht als Worte verstanden, die Teil einer wirklichen Kommunikationssituation sein können, sondern als Laute, die entsprungen sind der „Tierheit des Geschöpfs, das bloß dem Lärm, der Lust und des Schmerzes bestimmt ist“. Aber vielleicht ergänzen sich auch beide Seiten in dem Sinn, dass die Bewohner der schrumpfenden Stadt es schon gewohnt sind, sich selbst mit den Argumenten zu beschreiben, die sie z.B. in der Zeitung über sich lesen.

Zwischen Jacques Rancières und Hannah Arendts Begriff der Politik gibt es (auch wenn sie sich voneinander unterscheiden) systematische Gemeinsamkeiten. Das Subjekt, das sich „als Sprecher zählen lässt, muss so tun, als ob die Szene existierte, als ob es eine gemeinsame Welt der Argumentation gäbe...“ Der performative Charakter des „als ob“, das Politik herstellt, erinnert deswegen an den Politikbegriff bei Hannah Arendt, weil es auch Arendt um Partner im Sinne von Gleichen geht, deren Handeln in der Öffentlichkeit stattfindet und diese Öffentlichkeit verändert. Arendt ist eine politische Denkerin von der „anderen“ Seite, der Seite der Durchfah­ren­den. Es gab in der DDR so gut wie keine Arendt-Rezeption. Außer in sehr kleinen oppositionellen Kreisen, die Arendt in den 80er Jahren lasen, war sie nieman­dem bekannt. Mit Arendt nach Weißenfels zu kommen, interpretiere ich daher als eine Art Basisarbeit in Bezug auf die Herstellung des Rancièreschen „als ob“. D.h. ich lese mit den Weißenfelsern Arendt, so als ob sie in der Diskussion über Arendts Gedan­ken zur Arbeit und in der gesamtgesellschaftlichen Diskussion zur Lage der Arbeit etwas zu sagen hätten und auch gehört werden würden. Mit Arendt selbst lässt sich das als Handeln, das immer schon politisch ist, beschreiben.

Was ist passiert? Die Videos zeigen, dass die Menschen, die an den Lesekursen teilnahmen, sehr viel zu sagen haben: erstens zur Rolle und Bewertung der Arbeit in unserer Zeit und zweitens zu Arendts Definition von Arbeit mit der ihr inhärenten Trennung des Öffentlichen vom Privaten. Immer und immer wieder wurden Arendts Gedanken von den Kursteilnehmern ins Verhältnis gesetzt zum Arbeits­begriff von Karl Marx und zur Marxschen Idee des ökonomischen Unterbaus, die sich gut verträgt mit neoliberalen Vorstellungen über die Freiheit des kapitalistischen Marktes. Die Redebeiträge der Teilnehmer verdeutlichen, dass es eine bestimmte Kultur des Denkens in der Region gibt, die sich auf Marx beruft und die sich mit postmodernen Begriffen und Beschreibungen nicht bestimmen lässt. Da sich das Sprechen über das Arendtsche Handeln zugleich auch als Handeln deuten lässt, hatten die Lesekurse auch einen Performance-Charakter, der sie als künstlerische Form anschließbar an existierende Kunstformen macht. Obwohl vielen Weißenfelsern zunächst nicht bekannt gewesen ist, dass heute viele Künstler partizipatorisch arbeiten, leuchtete ihnen doch die Form des Lesekurses mit den Visualisierungen in Schrift und Film als künstlerische Form ein. In der internationalen Kunstausstellung Hannah-Arendt-Denkraum (www.hannaharendt-denkraum.com) in Berlin richteten dann die Weißenfelser ihre Worte und Gedanken virtuell an die Menschen, die potentielle Durchreisende durch Weißenfels sind.

Judith Siegmund in: polar. Zeitschrift für Politik/Theorie/Alltag, Heft 4, Frühjahr 2008

 

Auszug aus der Rede von Andreas Wegner zur Eröffnung der Ausstellung in der Brand-Sanierung Weißenfels, 2007:

Gemeinsam gelesen wurde Hannah Arendts Buch Vita activa. Insgesamt haben ca. 90 Personen an den Lesekursen teilgenommen. Während der Lesungen wurden Verständnisfragen gestellt, d.h. es war ein diskursives Lesen, in dem es auch darum ging, das Gelesene zu verstehen und zu hinterfragen. Anschließend wurden einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer in dem zwischenzeitlich vom Leseraum zum Aufnahmestudio umfunktionierten Raum von Judith Siegmund interviewt, was in der Ausstellung auf den Monitoren zu verfolgen ist.

Bevor es aber dazu kommen konnte, dass gemeinsam Hannah Arendt gelesen wurde, waren einige Vorbereitungen nötig. In Weißenfels wurden 10.000 Flyer verteilt. Über verschiedene Firmen und Verbände wurde Kontakt zu der Bevölkerung aufgenommen. Viele Gespräche wurden geführt, um das Interesse an den Lesekursen zu wecken. Dank dieser Bemühungen und dank der positiven und reichlichen Berichterstattung in der regionalen Presse konnte es gelingen, die Lesekurse erfolgreich durchzuführen. Vergleicht man diese Vorbereitungen für ein Kunstprojekt mit traditionelleren Formen der Bilderzeugung, so läuft es auf die wesentliche Frage hinaus: Was ist das Produkt?

Das Projekt ist eine Aufforderung und zugleich die Realisierung eines Modells, einer Form, wie aus Ohnmacht Macht werden könnte, zumindest die Macht der Selbst­definition, die Restrukturierung der eigenen Sprache, indem anhand von politischer Theorie (und als solche verstand Hannah Arendt ihr Programm) die eigenen Situationen im kritischen Verhältnis zu dieser Theorie neu bestimmt werden können. Welche praktischen Konsequenzen zu ziehen sein werden, steht auf einem anderen Blatt.